Kinderrechte in Deutschland
Engagement – Information – Vernetzung

Servicestelle Starke Kinder- und Jugendparlamente

Jessica Albers, Sven Gräßer

030 30 86 93 - 91, -18

Die Qualitätsmerkmale für starke Kinder- und Jugendparlamente

Aus der Studie entwickelt

Was macht starke Kinder- und Jugendparlamente aus und wie arbeiten sie? Welche Faktoren sind notwendig, um Kinder- und Jugendparlamente und andere Kinder- und Jugendgremien stark zu machen? 

Die hier vorgestellten Qualitätsmerkmale wurden auf der Basis der Studie von Prof. Dr. Roland Roth und Prof. Dr. Waldemar Stange (2018) entwickelt. Das Gesamtprojekt haben in unterschiedlichen Phasen Sebastian Schiller, Jan Stange, Tim Stegemann und Ellen Windmüller unterstützt. Im ersten, quantitativen Teil wurde eine Online-Befragung der Betreuungspersonen dieser repräsentativen Beteiligungsformate durchgeführt. Im zweiten Teil wurden die aktiven Kinder und Jugendlichen im Rahmen einer qualitativen Studie (Interviews und Gruppendiskussionen) befragt. Im dritten Teil wurden die Ergebnisse der beiden ersten Teilstudien durch lokale Fallstudien komplettiert. Auf der Grundlage dieser drei Teilstudien haben die Forscher Qualitätsmerkmale für kommunale Kinder- und Jugendparlamente formuliert.

Um den vielen interessierten Nachfragen zu den Ergebnissen der Untersuchung gerecht werden zu können, haben wir mit der Broschüre Starke Kinder- und Jugendparlamente. Qualitätsmerkmale und kommunale Erfahrungen. vorab (2020) einen Teil der Gesamtergebnisse: exemplarische deskriptive Befunde aus der quantitativen Online-Befragung und die abgeleiteten Qualitätsmerkmale publiziert. Beides gibt einen guten ersten Überblick. Im Hinblick auf die Ergebnisse zu den bivariaten Zusammenhängen (Korrelationen), zur Interviewstudie mit den Jugendlichen selbst und zu den Fallstudien verweisen wir auf die bevorstehende Buchveröffentlichung. Die dort festgestellten Befunde bestätigen im Wesentlichen die Ergebnisse der hier vorgestellten Online-Befragung der Betreuerinnen und Betreuer.  

Alle Ergebnisse der Studie werden außerdem detailliert in dem im Beltz-Verlag erscheinenden Buch Roth, Roland / Stange, Waldemar: Kommunale Kinder- und Jugendparlamente. Empirie und Perspektiven einer unterschätzten Form der Beteiligung junger Menschen. Weinheim: Beltz/Juventa publiziert.


Die 20 Qualitätsmerkmale

7 Kernmerkmale und 13 ergänzende Merkmale


Kernmerkmale:

1. Starkes Mandat und politischer Wille

Wirksame Beteiligung von jungen Menschen setzt in der Regel Offenheit und Unterstützung durch Erwachsene voraus. Dies gilt in besonderer Weise für auf Dauer angelegte, repräsentative Beteiligungsformate. Kinder- und Jugendparlamente können nur erfolgreich sein, wenn Politik und Verwaltung sie mit einem starken, robusten Mandat versehen. Der politische Wille zur Gründung und Einbeziehung des Kinder- und Jugendparlaments in die kommunale Politik muss deutlich ausgeprägt sein, offensiv öffentlich vertreten und besonders in Konflikten bestätigt werden. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft in Politik und Verwaltung, die Interessen und Perspektiven von jungen Menschen in allen sie betreffenden Belangen kommunalpolitisch zu berücksichtigen, können Kinder- und Jugendparlamente ihre Potentiale nicht entfalten.

2. Strukturelle Verankerung

Ratsbeschluss und Fixierung in Satzungen. Kinder- und Jugendparlamente benötigen für ihre Arbeit institutionelle Garantien. Schon ihre Einsetzung erfordert Beschlüsse und Satzungen, deren Vorlagen am besten mit Kindern und Jugendlichen partizipativ erarbeitet werden. Unabhängig davon, wie das Kinder- und Jugendparlament verankert wird (kommunales Leitbild, Leitlinie, Ratsbeschluss, Aufnahme in die Hauptsatzung etc.), sind klare Regelungen zu Wahlberechtigten, zu Nominierungs- und Wahlverfahren, zur Ausstattung und zur Arbeitsweise des Gremiums und zu seinen Mitspracherechten (z.B. Rede- und Antragsrecht in Gremien der Kommunalvertretung) vonnöten. Sie sollten jedoch so flexibel und erfahrungsoffen ausgestaltet sein, dass sie den sich wandelnden Interessen und Lebensbedingungen junger Menschen vor Ort gerecht werden.

3. Betreuende, unterstützende, moderierende und ermöglichende Fachkräfte

Kinder- und Jugendparlamente sind keine Selbstläufer. Es kommt zwar immer wieder vor, dass eine Initiativgruppe von Kindern und Jugendlichen wesentliche Aufgaben in eigener Regie übernimmt, aber auf Dauer ist für eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit die Unterstützung von hauptamtlichen und professionell versierten Personen notwendig. Sie sorgen z.B. für die Anbindung des Gremiums in die Ratsarbeit, helfen bei der Umsetzung der Vorhaben in der Kommunalverwaltung und unterstützen die Öffentlichkeitsarbeit. Bei Bedarf moderieren sie zudem Diskussions- und Abstimmungsprozesse in den Sitzungen der Kinder- und Jugendvertretung.

4. Eigenes Budget und eigene Gestaltungsmöglichkeiten

Ein eigenes Budget kann erheblich zum Gelingen eines Kinder- und Jugendparlaments beitragen, denn es bedeutet einen Vertrauensvorschuss durch die Gemeindevertretung und ermöglicht eigene Initiativen, die auch zu kurzfristigen Erfolgserlebnissen führen können. Ein selbstverwaltetes Budget zerstreut zudem den stets vorhandenen Verdacht, es könne sich bei diesem parlamentarischen Gremium um bloße Symbolpolitik handeln. Es macht die Mitarbeit für junge Menschen attraktiv, weil etwas gestaltet werden kann – seien es nun Projekte und Kampagnen oder Feste und Events. Ein nicht unwichtiger Aspekt sind auch Kostenerstattungen und Sitzungsgelder. Sie helfen Kindern und Jugendlichen aus finanziell schwächeren Milieus die Mitarbeit. Zudem wird damit eine symbolische Gleichstellung mit dem Erwachsenenparlament vollzogen.

5. Repräsentativität und Diversität

Wie bei allen parlamentarischen Vertretung ist auch die Qualität und lokale Anerkennung von Kinder- und Jugendparlamenten davon abhängig, ob es gelingt, eine möglichst repräsentative Beteiligung junger Menschen im Hinblick auf Geschlecht, Herkunft, Beeinträchtigungen, soziale Lage, Bildungsstand, sexuelle Orientierungen, Milieus etc. zu erzielen. Eine möglichst breite und faire Repräsentation ist eine permanente Gestaltungsaufgabe, die unter anderem durch Nominierungs- und Wahlverfahren, die offene und transparente Arbeit des Vertretungsgremiums und die Vernetzung mit anderen Formen der Interessenorganisation (Kinder- und Jugendverbände, Initiativen, Vereine etc.) unterstützt werden kann.

6. Kooperative Haltung von Politik und Verwaltung

Wo Beteiligung auf Politik und Verwaltung trifft, geht es stets auch um Haltungsfragen. Institutionelle Regelungen allein genügen nicht. In einer kooperativen Verwaltung kommt engagierten Ansprechpersonen als Themenanwälten eine Schlüsselfunktion zu. Betreuerinnen und Betreuer von Kinder- und Jugendparlamenten können dabei unterstützen, aber die Kooperation mit den Fachverwaltungen nicht ersetzen. Hier liegt auch ein möglicher Aufgabenbereich für die in einigen Kommunen neu geschaffenen Partizipationsbeauftragten. Die Kooperation mit dem Kommunalparlament stellt eine zweite Schlüsselaufgabe dar. Notwendig sind frühzeitige Informationen über die Themen des Stadtrats und dessen mittelfristige Vorhaben, feste Ansprechpersonen in den Fachausschüssen sowie die transparente Einbeziehung in Diskussions- und Entscheidungsprozesse.

7. Selbstwirksamkeit/Wirksamkeit und politischer Einfluss

Die besondere Attraktivität von Kinder- und Jugendparlamenten liegt in ihrer institutionell ausgestaltete Wirksamkeit. Sie können dafür sorgen, dass die Interessen von Kindern und Jugendlichen in der Lokalpolitik stärker berücksichtigt werden, indem die Vertretung beratend und mitwirkend Einfluss (z.B. im Rat oder im Jugendhilfeausschuss) nimmt. Es geht dabei in der Regel um ein thematisch breites Engagement, das alle kommunalen Handlungsfelder, aber auch allgemeine politische Themen (z.B. Klimawandel oder Rassismus) berühren kann, vor allem wenn ein lokaler Bezug möglich ist (vgl. Bär u.a. 2021).


Ergänzende Merkmale:

1. Kultur der Anerkennung

Das besonders aufwändige und anspruchsvolle Engagement in Kinder- und Jugendparlamenten lebt davon, dass die beteiligten Kinder und Jugendlichen Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Dazu gehört zuerst der respektvolle Umgang und die Kommunikation auf Augenhöhe mit den erwachsenen Akteurinnen und Akteuren aus Politik und Verwaltung, aber auch in der lokalen Öffentlichkeit. Wie in anderen Engagementbereichen auch tragen sichtbare Erfolge maßgeblich zur Anerkennung bei.

2. Fehlerfreundlichkeit

Kinder- und Jugendparlamente sind besonders anspruchsvolle Lernorte. Daher sind sie auf Fehlerfreundlichkeit angewiesen und darauf anzulegen. Es muss den engagierten jungen Menschen möglich sein, Fehler zu machen und sie zu korrigieren, ohne dass in der öffentlichen Wahrnehmung das Vertretungsgremium als solches abgewertet wird.

3. Nutzung vielfältiger Beteiligungsformate

Auch wenn der „parlamentarische“ Ansatz im Zentrum steht, umfasst die Praxis von Kinder- und Jugendparlamenten heute ebenso Projekte, öffentliche Veranstaltungen, offene Formate und Foren. Damit öffnen sie sich für die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen jenseits der repräsentativen Praxis und machen ihre eigene Arbeit für die Engagierten spannend und abwechslungsreich.

4. Kinder- und jugendgemäße Arbeitsformen nach innen – Parlamente mit Diskussionskultur und Spaßfaktor

Kinder- und Jugendparlamente geben sich eigene Arbeitsformen und bestimmen ihre Themen weitgehend selbst. Sie können und sollten kein Abbild der Gemeinderatsarbeit sein. Sie benötigen eine besondere Kooperationskultur und ein gutes Arbeitsklima unter den beteiligten Kindern und Jugendlichen. Ihr Ziel ist die gleichberechtigte Zusammenarbeit in einer notwendig heterogenen Gruppe, in der es ja um die Repräsentation einer vielfältigen Welt der Kinder und Jugendlichen vor Ort geht. Gerade junge Menschen haben in der Regel eine hohe Sensibilität, wenn es um die gleichberechtigte Teilhabe geht. Es kommt darauf an, die Tätigkeiten in den Kinder- und Jugendvertretungen so vielfältig, abwechslungsreich und spannend zu gestalten, dass auf der einen Seite die repräsentativen Ansprüche erfüllt werden und auf der anderen Seite lockere Formen gefunden werden, die Spaß machen und die den Gewohnheiten und Möglichkeiten der jungen Menschen gerecht werden.

5. Rahmenbedingungen kinder- und jugendfreundlich gestalten

Vor allem in ländlichen Räumen gibt zeitraubende Mobilitätsanforderungen, die durch Fahrdienste reduziert werden können. Auch die zeitliche Abstimmung mit Ratssitzungen ist ein Thema. Kinder- und Jugendparlamente können nur erfolgreich sein, wenn sie auf die lebensweltlichen Bedingungen junger Menschen abgestimmt sind.

6. Lokale Vernetzung und Kooperation

Auch Kinder- und Jugendparlamente sind keine Inseln, sondern können ein Fixpunkt in einer kommunalen Beteiligungslandschaft sein. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sich die unterschiedlichen Formen der Interessenvertretung junger Menschen ergänzen und nicht in ruinöser Konkurrenz um finanzielle Förderung und öffentliche Anerkennung stehen, sondern sich wechselseitig ergänzen und fördern. Erfolgreiche Kinder- und Jugendvertretungen sind deshalb eng in die Zivilgesellschaft, die lokale Kinder- und Jugendszene und die verbandliche Jugendarbeit eingebunden. Sie halten gute Kontakte zu Institutionen, Verbänden, Vereinen und Initiativen, die Kinder- und Jugendinteressen vertreten. Ein besonderes Gewicht kommt der Kooperation mit Ausbildungsbetrieben und Schulen zu.

7. Vernetzung mit der kommunalen Jugendpolitik

Die Kooperation mit dem Jugendamt, dem Jugendhilfeausschuss und den anerkannten Trägern der Jugendhilfe kann die Tätigkeit des Kinder- und Jugendparlaments verbessern. Dort können zusätzliche Ressourcen (für Fortbildung, Beratung, Förderung usw.) mobilisiert werden und zusätzliche Beteiligungsmöglichkeiten (etwa an der gesetzlich vorgeschriebenen Jugendhilfeplanung) genutzt werden.

8. Vernetzung über die Kommune hinaus

Lokale Kinder- und Jugendparlamente können vom Austausch mit ähnlichen Gremien in Nachbar- und Partnergemeinden, in der Region oder auf Landesebene und Bundesebene (auf jährliche Landestreffen in einigen Bundesländern, Bundesnetzwerktreffen usw.) profitieren. Sie können das Anregungspotenzial dieses Austauschs nutzen.

9. Unterstützung aus der Zivilgesellschaft

Die verbindliche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Form eines Kinder- und Jugendparlaments kann nicht überall mit Verständnis und Unterstützung rechnen. Umso wichtiger ist es, dass dafür zivilgesellschaftliche Akteure und die lokale Öffentlichkeit gewonnen werden.

10. Transparenz und Öffentlichkeitsarbeit

Öffentliche Sitzungen, die Ankündigung der Themen, aber auch die Offenheit für neue Impulse sollten für Kinder- und Jugendparlamente selbstverständlich sein. Ziel ist, dass vor allem Kinder und Jugendliche ihre Vertretung kennen und wissen, wie sie darauf Einfluss nehmen können.

11. Kontinuität

Im Unterschied zu Projekten und offenen Beteiligungsformaten sind Kinder- und Jugendvertretungen auf Dauer und Verlässlichkeit angelegt. Junge Menschen sollten sich darauf verlassen können, dass diese Form der Meinungsbildung, Interessenvertretung und Einflussnahme keine Eintagsfliege darstellt. Deshalb ist besonders darauf zu achten, wie es gelingen kann, die Vertretung über eine Arbeitsperiode und eine Jugendgeneration hinaus abzusichern.

12. Unterstützende Länderregelungen

Bislang gibt es keine gesetzlich verbindliche Vorgabe zur Kinder- und Jugendbeteiligung in der Form der Interessenvertretung durch repräsentative Formate. Einzig die Gemeindeordnung Baden-Württembergs hebt in der Fassung von 2015 (§ 41a) die Einrichtung von Jugendgemeinderäten und -vertretungen besonders hervor und gibt Jugendlichen mit einem niedrigen Quorum das Recht, die Einrichtung einer eigenen Jugendvertretung zu beantragen. Ähnliche Regelungen sind auch in anderen Bundesländern zu wünschen. Gleichzeitig haben Kommunen bereits heute das Recht, Kinder- und Jugendparlamente einzurichten und mit einigen Gestaltungsmöglichkeiten auszustatten. Zudem gibt es in einigen Bundesländern hilfreiche landesweite Unterstützungs- und Vernetzungsangebote.

13. Offenheit für Lernprozesse bei allen Beteiligten – Chancen sehen und wahrnehmen

Die prägnante Aussage von Oskar Negt, dass Demokratie die einzige Regierungsform ist, die immer wieder neu erlernt werden muss, gilt besonders für Kinder- und Jugendparlamente. Dort mitzuarbeiten eröffnet Kindern und Jugendlichen besondere Lernchancen (über Kommunalpolitik, repräsentative Demokratie, Formen der Selbstwirksamkeit und vieles andere mehr), die z.B. durch Schulen und andere Bildungsträger verstärkt werden können. Aber auch den beteiligten Erwachsenen in Kommunalverwaltung und -politik, nicht zuletzt den Betreuerinnen und Betreuern, werden Lernchancen eröffnet. In einer Gesellschaft, in der sich auch eine Segmentierung entlang von Altersgruppen verstärkt, steigert die Auseinandersetzung mit der Agenda und den Interessen der nachwachsenden Generation die Chance, gemeinsam zu zukunftsfähigen Lösungen zu kommen, die von fairen Kompromissen zwischen den Generationen getragen werden.